NetEase: Neue Studios rund um die Welt

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Dieser Artikel stammt aus der M! 358 (Juli 2023).

HANGZHOU • NetEase setzt seine Investitions-Tour ungebremst fort: Der chinesische Konzern öffnet Anfang 2023 das Entwicklungshaus Spliced im englischen Manchester, finanziert in Tokio das Studio Flare, das Ex-Marvelous-Vize Toshinori Aoki und BlazBlue-Produzent Toshimichi Mori aufbauen, und macht die kanadischen Skybox Labs (Ex-EA-Profis mit Niederlassungen in Burnaby und Victoria) zur 100-prozentigen Tochter.

Hochkarätiges Personal und zwei Standorte zeichnen auch die Anchor Point Studios aus, deren Start NetEase Ende April bekannt gibt: Die neue Entwicklungsfirma wird geführt von Paul Ehret, einem ehemaligen Half-Life-Modder, der für Microsoft an der Shadowrun-Umsetzung und Halo 4 arbeitete und zuletzt Lead Designer von Remedys Sci-Fi-Action-Adventure Control war. ­Anchor Point beschäftigt auch Ghost of Tsushima-, Red Dead Redemption 2– und The Division-Veteranen, produziert in der Barcelona-Zentrale sowie in Schwesterstudios im nordamerikanischen Seattle und verspricht als Debüt ein Action-Adventure für Konsolen und PC, das ”die Grenzen der Unterhaltung erweitert”, ”Überraschungselemente in den Spielablauf einbringt” und – natürlich – starke Social- und Multiplayer-Elemente besitzt.

Nur wenige Wochen später hebt NetEase das nächste Doppelstudio aus der Taufe: Bad Brain arbeitet in Toronto und Quebec an einem Unreal-Engine-5-Open-World-Abenteuer, das uns 1980er-Jahre-Grusel zurückbringen soll. Geleitet wird die kanadische Entwicklungs­firma von Sean Crooks, der 2009 bei den Kfz-Crash-Experten Reflections anheuert, dann für Ubisoft Montreal und Toronto Just Dance, Watch_Dogs 2 und Watch Dogs: Legion produziert. Sein Start-up beschäftigt weitere Ubi-Abtrünnige, zum Beispiel Art Director Thomas Rollus und als Level Design Director Pierre-Yves Savard, der Ende der 1990er als Tester bei Ubisoft anfängt, mit Far Cry-Levels übt und in den letzten Jahren das Missionsdesign aller Watch_Dogs-Teile gestaltet.

Mit dem dritten Frühlings-Investment unterstreicht die NetEase-Holding ihre Strategie und ihr Vertrauen in japanische Game-Kreativität: Nach Goichi Suda, Capcom-Promi ­Hiroyuki ­Kobayashi und Segas Toshihiro ­Nagoshi rekrutieren die Chinesen Ende Mai den Enix-Profi Ryutaro Ichimura. Der startete Ende der 1990er im Enix-Planungsstab für das hervorragende Musikspiel Bust a Groove 2 und war Produzent des Dragon Quest IV-PlayStation-Remakes, der Dragon Quest-Originalepisoden VIII: Journey of the Cursed King und IX: Sentinels of the Starry Skies, vieler Smartphone-Folgen und der ”DQ: The Adventure of Dai”-Zeichentrickserie. Für und mit NetEase baut Ichimura jetzt in Tokio das ”multifunk­tionale” Studio PinCool auf, um ”globalen Unterhaltungs-Content” zu produzieren. Wie die meisten modernen Game-Start-ups versteht sich PinCool nicht als reiner Spieleentwickler, sondern als Kreativ- und Produktionskraft hinter diversen Unterhaltungsformen – TV, Kino, Manga, Anime, Merch-Spielzeug. Zweiter Mann bei PinCool ist Marketing-Spezialist ­Takashi Ogura, der sich davor für die Spielzeugfirma Epoch um ”Doraemon” sowie für Square Enix um ”The Adventure of Dai” kümmerte. PinCool wird ”sowohl an kleineren Titeln, als auch an Großprojekten arbeiten”, kündigen die Japaner an, ohne Details zu verraten.

Netzwerk und Mitarbeiterstamm von NetEase wachsen schwindelerregend: Wikipedia meldet noch den 2018-Stand (18.129 Köpfe), die börsennotierte Firma aber hat 2020 bereits gut 28.000 und 2022 schon 31.119 Beschäftigte. Im Gegensatz zu US-Firmen beendet NetEase die Covid-Zeit nicht mit Massenentlassungen.

Fertige Spiele der genannten Studios sehen wir frühestens in ein, zwei Jahren. Nachdem sich NetEase bisher primär um Online- und Handy-Spiele kümmerte, sind neue Projekte auch für PlayStation und Xbox angekündigt. In jedem Fall wirken die Rekrutierungen und Übernahmen auf die Konsolenszene: Ein immer größerer Anteil des Game-Contents, den die erfahrensten Entwickler weltweit produzieren, unterliegt strategischen Vorgaben chinesischer Firmen. Und immer mehr vom Geld, das die Menschheit online und mobil ver­daddelt, geht nach Hangzhou zu NetEase; oder nach Shenzhen ins Tencent-HQ.