Disco Elysium: The Final Cut – im Test (PS4)

Zusätzliche Brisanz erhält Eure Recherche, weil Ihr nicht nur Verbrecher, sondern auch die eigene Identität sucht: Durchgezechte Nacht und Filmriss lassen Euch ohne Erinnerung im unaufgeräumten Hotelzimmer erwachen. Ihr wisst nicht mal Euren Namen und erschreckt über die Visage im Spiegel. Erst durch die Aussagen und Konfrontation mit NPCs lernt Ihr Euren Charakter und sein Vorleben kennen. Das ist oft peinlich und macht nicht zuletzt die Pflichtanrufe im Dezernat zum Spießrutenlauf und Nervenkrieg: Der Vorgesetzte tadelt, die Kollegen spotten und Ihr zaudert, den verlorenen Dienstausweis zu melden. Und wo ist eigentlich Euer Revolver?

Unter der Point’n’Click-Mechanik entfaltet sich die Quest-Struktur eines Open-World-Rollenspiels: Die erste Mission des Antihelden ist es, nach dem Aufstehen den zweiten Schuh zu finden – eine Leistung, auf die er noch viele Dienststunden später stolz zurückblickt. Schnell wird aus bescheidenen Schritten ein Wust von Neben- und Hauptaufgaben und ein Thriller, der philosophische, politische und moralische Fragen aufwirft. Das klingt nach viel Frust, Psycho-Trouble und erhobenem Zeigefinger. Doch mitnichten: Disco Elysium ist kein dogmatisches Lehrstück und vertritt keine politische Agenda. Man hat immer die Wahl, ob man links, rechts oder gar nicht tickt, was man tut und lässt, glaubt oder als Lüge verwirft. Keine Angst, neben unbehaglichen Neuerungen bietet Disco Elysium bewährten Motivationszucker und was Rollen- und Adventure-Spielern Spaß macht: Man knackt gierig jeden ”Container” und sackt alles ein, darf Knöpfe drücken und einen Kran bewegen, Talente leveln und Erfahrungspunkte in Körper und Geist investieren. Gängige Game-Standards werden nicht verworfen, sondern persifliert. Die Missionsinflation moderner Titel wird zur Metapher aufs menschliche Leben, wenn die innere Stimme vermerkt, wie befriedigend das Abhaken von Haupt- und Nebenaufgaben ist und die übersichtliche Liste lobt: ”Dinge, die noch getan werden müssen und ­Dinge, die bereits getan sind.” Das Spiel veräppelt lieb gewonnene Konventionen und treibt auch die ”Das will ich haben!”-Gier, die jedes gutes RPG oder Adventure auslöst, auf die Spitze: Eine Oberwelt-Landkarte wird angekündigt, wortreich beschrieben, im Detail angepriesen – aber dann doch nicht freigeschaltet!

Soll, darf oder muss man die aristokratische Alte um Geld anbetteln (obwohl Stolz & Co. warnen), will man abstruse Rassentheorien büffeln, um das Rhetorik-Ass an der Tür zu überwinden? Disco Elysium ist Rollenspiel im idealen Wortsinn, lässt Euch über moralische Dilemmas stolpern und führt zur essenziellen Frage: eine Kippe nach Tagen der Abstinenz, wenn man endlich eine ergattert? Hier ist sich die ­innere Stimme sicher: ”Du musst sie rauchen. Der gewaltigen Boni wegen.” Schlimmer als Verbrecher und bissige Mitmenschen sind eigenes Bauchgefühl und manische Angewohnheiten: Im verdächtigen Müllcontainer am Tatort wühlt man nach Hinweisen und Loot so tief und gründlich, bis man ganz unten eine zerfledderte Kladde herauszieht. ”Ein jämmerlicher Haufen Papier” – die über Jahrzehnte gesammelten Dienstakten des Helden! Ganz hinten sind, für einen letzten Fall, noch wenige Seiten frei.