Kriminologe Christian Pfeiffer im Gespräch

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MAN!AC: Sie sind Jahrgang 1944: Was haben ­Ihnen Ihre Eltern verboten, als Sie ein Kind waren?

Christian Pfeiffer: Die haben sich nicht eingemischt. Ihre einzige Sorge war, dass ich zu viele Romane lese. Aber es gab nie eine ernsthafte Verbotsdebatte. Das erste Mal, dass ich mit so einem medialen Zirkus in Berührung gekommen bin, war, als ich mit 18 den Kinofilm ”Das Schweigen” (5) sehen wollte. Der Streifen hatte den Zorn der katholischen Kirche auf sich gezogen und plötzlich tauchten im Kino Priester in Talaren auf, die uns davon abhalten wollten, den Film zu sehen.

Ein ehemaliger Klassenkamerad brachte es mal auf den Punkt: ”So was gab’s bei uns damals nicht, Debatten um Verbote”. Nun ja… die Filme hatten Grenzen. Man kam in Filme, die ab 18 waren, nicht rein, da die Leute ja kontrolliert haben.

(5) – Das Schweigen

”Das Schweigen” ist ein Drama des schwedischen Filmemachers Ingmar Bergman, der 1997 in Cannes zum besten Regisseur aller Zeiten gekürt wurde. Der Film enthält 118 Sekunden Sex und Masturbation der weiblichen Protagonistinnen von damals revolutionärer Freizügigkeit. Diese Szenen sorgten dafür, dass 1963 mehr als zehn Millionen Zuschauer in die deutschen Kinos strömten.

MAN!AC: Hat Sie das geärgert?

Christian Pfeiffer: Ja… Es war nicht wirklich wirksam. Ich habe schon als Achtjähriger zu meinem Leidwesen ’verbotene Filme’ im Kino gesehen, weil es den Kartenverkäufern darauf ankam, Umsatz zu machen. Meinen Geschwistern war es zu langweilig, mit mir immer in Filme ab 6 Jahren zu gehen und so haben sie mich mitgeschleift in Filme ab 12 oder ab 16. Das hat mir nicht gut getan, ich hatte lange Albträume von den Filmen. Mag sein, dass mich das bis heute beeinflusst. Ich war selber sozusagen Objekt von verbotenem Tun und habe am eigenen Leib gemerkt, wie stark mich diese Bilder der Gewalt getroffen haben.

MAN!AC: Bei den Augsburger Mediengesprächen kam es zur Sprache und Sie haben es vorhin in Zusammenhang mit Ihrem Sohn erwähnt: Ist es Ihr politisch übergeordnetes Ziel, Ganztagsschulen in Deutschland einzuführen?

Christian Pfeiffer: Ja, aber nicht als Selbstzweck, sondern zum Schutz vor der nachmittäglichen ­Medienverwahrlosung.

MAN!AC: Ist das Thema Computerspiel – so wie es zumindest in der Öffentlichkeit transportiert wird – dann nur Mittel zum Zweck für dieses Ziel?

Christian Pfeiffer: Ja. An sich sind wir ja Kriminologen und machen eigentlich keine Schulforschung. Das Thema Ganztagsschulen ist erst seit 2005 für uns in den Mittelpunkt gerückt, weil wir seitdem in unseren seit 1998 laufenden Schülerbefragungen den Medienkonsum differenziert erfassen. Und dann stellten wir plötzlich diese ausgeprägten Leistungsunterschiede fest: In den Hauptschulen dominieren die Jungen und in den Gymnasien die Mädchen. Das war zu meiner Schulzeit nicht so, da war die Verteilung in etwa gleich. Wir haben uns gefragt: Warum ist das so, warum werden die Jungen immer schlechter? Wir haben nachgeforscht und festgestellt, dass die Leistungskrise der Jungen etwa 1990 anfing. Auf der Suche nach dem Auslöser haben wir erst die Feminisierung des Lehrerberufs ins Auge gefasst – das hat sich aber schnell als Sackgasse herausgestellt. Erst danach haben wir in die Kinderzimmer geschaut. Es war also ein Lernprozess, den wir schrittweise seit 1998 anhand unserer Forschungsbefunde absolviert haben. Und dann gab’s aus den USA Forschungsergebnisse, die den Zusammenhang zwischen Gewaltbereitschaft und Computerspielen bzw. schlechten Noten und Computerspielen als Inhalt hatten. Das war für uns ein Hinweis, in diese Richtung zu forschen. 2004 haben wir damit begonnen und sind aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Seitdem sind wir Anhänger der Ganztagsschule, weil sie eine Art Medien­schutzfunktion hat.

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Ob jemand ein Spiel spielt, ein durchschnittliches Buch liest oder ein durchschnittliches Bild malt, ist kein grosser Unterschied.
Das menschliche Gehirn hat sich in 10.000 Jahren nicht gross weiter entwickelt. Ein Mensch von damals könnte ein Auto steuern. Und da liegt der Knackpunkt.
Die Gesellschaft dürstet es nach Sündenböcken.
Wenn der Mythos Normalität von der Realität abweicht, dann suchen wir wie die alten Griechen nach Sündenböcken (Pharmakoi oder Pharmakos). Früher waren das echte Menschenopfer.
Das können Minderheiten, Rassen oder eben Videospiele oder Filme sein. Ob 2000 vor Christus oder danach, völlig egal. Alles kann ein Sündenbock sein, wenn die kosmetische Darstellung reicht, und die Masse Befriedigung empfindet. Völlig egal, sie sind nur dem Wandel unterworfen, ändern ihr Aussehen.
Aberglaube und Einbildung sind die stärksten Antriebskräfte dafür. Egal ob einer Lehrer oder Richter ist.
Wir sind immer nach der Suche, das was uns stört, mit Sündenböcken zu erklären. So funktionieren wir. Das ist tragisch, aber menschlich.
Gewalt findet meiner Meinung nach in keinem Videospiel statt. Gewalt muss materiell sein, damit sie echt ist. Da sind nur virtuelle Modelle und Farben. Erst im Gehirn des Users entsteht der tatsächliche Eindruck. Das Lesen des Artikels hat Spass gemacht. Eben wieder Einbildung, durch die rechte Gehirnhälfte, glaube ich. So steht es bei Oliver Sacks. Darum fürchten wir uns auf bei Horrorfilmen, obwohl da nichts echt ist. 10.000 Jahre…
Und zur Zeitdauer. Wenn ich eine Sprache lerne, dann ändert sich mein Botenstoffhaushalt auch, oder wenn ich Holz hacke. Aber keiner käme auf die Idee, diese Vorgänge in einem bio neuro chemischen Vakuum ausdrücken zu wollen.
Und bei Spielen soll das auf einmal wichtig sein? Das wird nur gesagt, weil Spielen nicht so sinnvoll von der Gesellschaft angesehen wird, wie Sprachen lernen oder Holz hacken.
Wir sollten uns von diesen modernen Priestern nichts weiss machen lassen.
Die echten Schäden entstehen viel eher durch die jährlich erhöhte Selektion, in Neusprech gerne euphemistisch als “Bildung” betitelt. Durch diesen unmenschichen Leistungsdruck zerbrechen viele junge Schüler. Dieser als Normalität betitelter Wahnsinn produziert am laufenden Band Menschen, die den Druck auf tragische Art gegen sich oder andere entladen. Jahr für Jahr wird dies schlimmer. Das können wir uns nicht eingestehen, und küren darum stets unsere Sündenböcke.