Alle Jahre wieder wagt ein Hersteller das beinahe aussichtslose Unterfangen, ein Stück vom Open-World-Kuchen abzuknabbern, obwohl sich dieser seit Entstehung des Subgenres dank Grand Theft Auto und Red Dead Redemption fest in den Klauen des Rockstar-Imperiums befindet. Der jüngste Herausforderer hat eine bewegte Entstehungsgeschichte hinter sich und das Glück, dass Square Enix nach dem Just Cause-Duo Interesse an einem zünftigen Großstadtdschungel-Epos zeigte. Kurz gesagt also: Sleeping Dogs ist da und will eigene Duftmarken setzen.
Das gelingt zweifelsohne mit dem gewählten Szenario: Hier seid Ihr nicht in einer längst ausgelutschten USA-Metropole wie New York oder Los Angeles unterwegs, sondern beweist Euch in noch unverbrauchter Kulisse. Die ehemalige britische Kronkolonie Hongkong versprüht eine ganz eigene Atmosphäre, die besonders gut zur Geltung kommt, sobald die Nacht heraufzieht: Wenn es dann durch die mit Neonreklamen gepflasterten Hauptstraßen geht oder Ihr in schmuddeligen Hinterhöfen zwielichtigen Tätigkeiten nachgeht, kommt Stimmung auf.
Technisch ist das Geschehen ordentlich in Szene gesetzt, ohne zu überwältigen: Open-World-typisch bekommt Ihr auch einmal gröbere Texturen zu Gesicht, Bewegungen wirken hin und wieder steif und besonders bei flotten Fahrten ploppen die Umgebungen erkennbar spät ins Bild.
Von der Stange ist hingegen die Handlung: Als Undercover-Cop Wei Shen kehrt Ihr nach längerem USA-Aufenthalt in Eure Heimat zurück und sollt über alte Bekanntschaften die Triaden infiltrieren und unschädlich machen. Das ist erzählerische Standardkost, hin und wieder ziemlich vorhersehbar und wird zudem mit allerlei gängigen Klischees verpackt. Dank guter Inszenierung und stimmiger Sprecher (allerdings nur in Englisch) klappt es aber, Euer Interesse zu wecken und Euch bei der Stange zu halten. Anfangs seid Ihr als Neuling mit Kleinaufträgen beschäftigt und müsst mit dem Misstrauen der anderen Ganoven leben. So geht es durch die ersten Aufträge, die erahnen lassen, dass Sleeping Dogs durchaus gewillt ist, nicht nur auf etablierten Open-World-Pfaden zu wandeln. Anders als etwa Niko Bellic ist Wei Shen ein Charakter, der direkte physische Konfrontationen willkommen heißt entsprechend häufig kommt fernöstliche Straßenkampf-Kunst zum Einsatz. Zwar bleiben auch zünftige Ballereinlagen nicht aus, die auf etablierte Deckungs-Mechanismen zurückgreifen. Doch selbst nachdem Ihr Euch in der Hierarchie hochgearbeitet habt, wird häufig gekloppt. Wei agiert dabei wie ein Mini-Batman, denn Arkham City stand sichtlich Pate: So steht und fällt Euer Erfolg im Kampf gegen eine meist deutliche Überzahl an Kontrahenten mit erfolgreichen Kontern. Blinkt ein Gegner rot, drückt Ihr den Dreiecks- bzw. Y-Knopf und setzt so eine wirkungsvolle Gegenattacke an.
Zusammen mit einem ordentlichen, erweiterbaren Arsenal an Angriffen, Würfen sowie der Nutzung von verlorenen Waffen oder der Einbeziehung von Umgebungsgegenständen für Finishing Moves kommen zünftige, wenn auch manchmal etwas unfaire Gefechte zustande. Zum Glück kann sich Wei wappnen, denn überall in Hongkong findet Ihr Läden oder Dienstleisterinnen, die Euch gegen einen geringen Obolus zeitlich begrenzte Leistungsverstärker aushändigen: Dann richtet Ihr mehr Schaden an, erholt Euch schneller oder gewinnt mehr Ansehen. Letzteres spielt auch bei der Charakter-Entwicklung eine Rolle: Durch Missionen oder diverse andere Gefälligkeiten erarbeitet Ihr Euch einen besseren Ruf, was praktische Boni von Rabatten bei Einkäufen bis zu Vorteilen im Kampf freischaltet. Dazu gesellen sich zwei weitere Kategorien, die Ihr durch Eure Aktionen beeinflusst: Wer sich vorbildlich verhält, gewinnt Cop-Upgrades (damit erregt Ihr u.a. weniger Aufmerksamkeit). Zeigt Ihr gegenüber Kriminellen keine Gnade, wird das von den Triaden wohlwollend registriert, was sich z.B. in verbesserten Angriffswerten äußerst.
Apropos Polizei: Die Gesetzeshüter von Hongkong sind ein eher harmloser Haufen, der Euch die meisten Missetaten durchgehen lässt. Provoziert Ihr doch mal eine Reaktion, werdet Ihr die Verfolger in der Regel leicht wieder los, zumal die Fahrphysik von gekaperten Vehikeln aus der Arcade-Ecke kommt. Kein Wunder also, dass Ihr neben Eurem Hauptauftrag parallel einige größere Kriminalfälle lösen sollt, die sich über mehrere Teilmissionen erstrecken und u.a. mit leichten CSI-Anleihen als angenehme Abwechslung zum Triaden-Geschäft dienen.
Zu tun gibt es in Sleeping Dogs auch sonst jede Menge. Zwar fällt die Story mit 12 bis 15 Stunden Umfang eher schlank aus, dafür ist die Metropole nur so vollgestopft mit Nebenbeschäftigungen: Erledigt Dutzende kleine Gefälligkeiten für Bekannte, hebt Drogenumschlagplätze aus, zapft Sicherheitskameras an, fahrt illegale Autorennen, habt Dates mit Mädels, singt schief Karaoke oder setzt Euer Geld bei Glücksspielen. Nicht alles ist gleich ansprechend inszeniert, es bietet aber genug Anreiz, Euren Aufenthalt im virtuellen Hongkong zu verlängern zumal Ihr via Sozialknoten Eure Leistungen in allen möglichen Kategorien mit Online-Freunden vergleichen dürft.
Macht das Sleeping Dogs ebenbürtig zum Throninhaber Grand Theft Auto? Nein, dazu fehlt es dann doch an Tiefgang, Feinschliff und frischen Einfällen. Aber als unterhaltsamer Action-Abstecher nach Fernost macht Wei Shens Undercover-Einsatz eine prima Figur.
Ulrich Steppberger meint: Gleich eines vorweg: Ein GTA-Killer ist Sleeping Dogs nicht, dazu reicht das asiatische Verbrecher-Epos in zu vielen Aspekten nicht an den Genre-Primus heran. Aber wenn Ihr jetzt zünftige Open-World-Action wollt, statt noch lange auf das nächste Rockstar-Produkt zu warten, dann macht Wei Chen einen mehr als nur ordentlichen Job. In gewisser Weise fühle ich mich an Saints Row: The 3rd erinnert: Auch Sleeping Dogs ist technisch keine Offenbarung, punktet aber mit einer eigenen Identität war es beim THQ-Spiel die respektlose Überdrehtheit, ist es hier das gelungen eingefangene Fernost-Ambiente eines John Woo & Co. Die Story lässt zwar kaum ein Klischee aus, hat im Gegenzug aber kaum Längen und entwickelt die Charaktere ordentlich weiter. Gerade wenn Ihr nachts durch Hongkong streift, kommt Stimmung auf und Mängel wie ungelenke Animationen, teils detailarme Texturen oder das realitätsferne Fahrverhalten der Vehikel treten in den Hintergrund. Zudem bekommt Ihr auch jenseits der Story jede Menge Beschäftigungsmöglichkeiten geboten, während Schießereien und Prügeleinlagen nach kurzer Eingewöhnung prima von der Hand gehen.
- unverbrauchtes Szenario überzeugt
- Hauptstory dauert ca. 12 bis 15 Stunden
- massenhaft Nebenbeschäftigungen und Sammelobjekte
Nicht gerade originelle, aber dank guter Atmosphäre und flotter Missionen überzeugende Open-World-Action.
Singleplayer |  | 82 |
Multiplayer |  |
Grafik |  |
Sound |  |