Tilt Five – Welten auf dem Wohnzimmertisch

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Dieser Artikel stammt aus der M! 346 (Juli 2022).

SANTA CLARA • Seit dem Crowdfunding-Erfolg der Ouya-Würfel-Konsole im Jahr 2015 werden auf Kickstarter & Co. zig Spielgeräte skizziert und beworben, davon längst nicht alle, aber ein Teil auch finanziert, realisiert und ausgeliefert. Letzteres gelingt der Augmented-Reality-Brille Tilt Five: Im Oktober 2019 spenden gut 3.000 Kickstarter-­Schwärmer knapp 1,8 Millionen US-Dollar, im Jahr darauf schießen professionelle Geldgeber – darunter der deutsche E-Sport-Unternehmer Jens Hilger und Zubehörkonzern Logitech – weitere 7,5 Millionen nach. Im Mai 2022 kommt Tilt Five bei Kickstarter-Unterstützern an. Für alle nachträglichen Besteller kostet das Set 360 US-Dollar und soll noch diesen Sommer ausgeliefert werden.

Via USB verbindet sich Tilt Five mit Windows-PCs (bald auch mit Android-Geräten) und besteht aus drei Komponenten: Dem 100 Gramm leichten AR-Headset, das gleichzeitig Projektor, Kamera und Tracker sowie Mikro und Stereo-Kopfhörer vereint, einem gut zwei Kilo schweren, ”retroreflektiven” Spielbrett, das von der Brille projektierte Bilder zurückwirft, sowie einem Wii-Remote-ähnlichen Bluetooth-Controller mit Trigger, Analogstick und sieben Knöpfen. Letzterer vibriert und entpuppt sich als Zauberstab, der den Spieler wie Harry Potter hexen lässt, Figuren lenkt, umstupst oder in Pixel auflöst, Karten austeilt, klickt, kämpft, baut und sammelt.

Erdacht wurde Tilt Five von Jeri Ellsworth und Rick Johnson, die davor beim Half-Life-Erfinder und Steam-Betreiber Valve im Augmented-Reality-Bereich forschten. Vor fünf Jahren scheiterten sie trotz prominenter Unterstützung (z.B. durch Android-Erfinder Andy Rubin) und der Übernahme ehemaliger ”Disney Infinity”-Entwickler und wagten 2017 einen zweiten Anlauf. ”Wir lernten aus der Vergangenheit”, erklärt Ellsworth und gibt ihrer AR-Plattform nun einen klaren Anwendungszweck: Tabletop-Spiele mit Figuren und Dioramen, die wie Hologramme aussehen. Welten und Wesen, die in 3D aus dem Spielbrett wachsen – davon träumt man seit 1977, als Han Solo und Chewie galaktisches Fantasy-Schach ausfechten. Der 3D-Effekt wird nicht mit echter Holografie erzeugt, sondern dank zweier ”Pico-Projektoren” in der Brille, die in 720p ein stereoskopisches Bild erzeugen, Landschaft und Figuren auf das Spielbrett oder darunter in die Tiefe legen. Im ­Praxistest überzeugt Tilt Five als bislang bester ”AR für daheim”-Ansatz. Der 3D-Effekt ist stark, das Sichtfeld stabil, das Headset bequem. Lediglich der Brillen-Lüfter nervt etwas sowie die Tatsache, dass einige Spieltexte kaum lesbar sind, weil sie nicht richtig angepasst wurden.

Für SCUMM-Adventure ist Tilt Five eher nicht geeignet, und auch nicht für 3D-Schießereien, dafür aber für Brett-, Karten- und Tüftel­spiele, Aufbau-, Strategie- und Puzzle-Konzepte aus Vogel- oder Iso-Perspektive. Der langfristige Spielspaß und Erfolg der AR-Plattform hängt von stetigem Software-Nachschub ab und der ist – wie bei anderen schwarmfinanzierten Spielplattformen – unwahrscheinlich, wenn sich nur Indies und keine etablierten Firmen darum kümmern. So ­wurde eine Umsetzung des skandinavischen Taktik-Gemetzels Warlite, das mit prächtigen Tabletop-Dioramen eine optimale AR-Anwendung abgäbe, bereits 2019 für Tilt Five angekündigt – seitdem aber nicht mehr erwähnt und mutmaßlich aufgegeben und vergessen. Aktuell gibt es knapp 20 Titel für Preise zwischen 2 bis 18 Euro auf Steam, darunter ein inoffizielles Sequel zum Tüftelklassiker Chip’s Challenge, aber keine bekannten Marken.

Letztere verspricht die Partnerschaft mit dem europäischen Brett- und Gesellschaftspielkonzern Asmodee, der Titel wie Catan, Der Herr der Ringe, Zug um Zug, Gloomhaven, Terraforming Mars sowie den Karten-Hit Splendor besitzt und mit seiner Digital-Abteilung Umsetzungen entwickelt. ”Tilt Five bedeutet eine neue Art der Interaktion mit unseren Spielen; Immersion, wie man sie nirgendwo sonst findet”, lobt Asmodee-Digital-Chef Pierre ­Ortolan, ohne konkrete Titel zu verraten. Als Tilt-Five-Partner ist seine Firma auch deshalb brisant, weil sie seit Ende 2021 zu Embracer gehört: einem Unternehmen, das anstrebt, die größte europäische Computer- und Videospielfabrik im AR-Bereich zu werden.